Schweigen in einer digitalen Welt

von Sina Lautenschläger

 

Schlüsselwörter

kommunikatives Schweigen, Still-Sein, digitale Kommunikation, Mediatisierung, Interventionsstrategien

Zusammenfassung

Schweigen ist keineswegs das Gegenteil von Sprechen: Beide sind komplementäre Pole auf einer Skala kommunikativer Mittel. Während die Bedeutung von Verbalisiertem aber durch die konkrete Wortwahl und den Kontext eingegrenzt wird, kann die Bedeutung eines Schweigens ausschließlich über den Kontext konstruiert werden, da materiell nichts angeboten wird. Und gerade diese starke Kontextabhängigkeit kann in digital vermittelter Kommunikation zu Missverständnissen führen, die bereits auf der basalen Unterscheidung von Schweigen (als kommunikativer Handlung) und Stille (als nicht-kommunikativem Zustand) angelegt sind und durch die Entkontextualisierung der Interagierenden begünstigt werden. Im Zusammenhang mit dieser grundlegenden Unterscheidung lassen sich verschiedene Arten des Schweigens aufzeigen.

Was ein Schweigen tatsächlich bedeutet bzw. bedeuten soll, muss stets zwischen den Kommunizierenden ausgehandelt werden und zeigt sich nicht zuletzt durch die verschiedenen Interventionsstrategien, die sich in Keyboard-to-Screen-Kommunikation finden lassen und Parallelen zu den Strategien in Face-to-Face-Gesprächen aufweisen.

 

Keywords

communicative silence, being silent, digital communication, mediatization, intervention strategies

Abstract

Silence is by no means the opposite of speech: Both are complementary poles on a scale of communicative means. However, while the meaning of what is verbalized is specified by the particular choice of words and the context, the meaning of an act of silence can be constructed exclusively through the context, since in material terms nothing is offered. And it is precisely this strong context dependency that can lead to misunderstandings in digital communication. These misunderstandings are already inherent in the basic distinction between being silent (as a communicative act) and quietness (as a non-communicative state) and are furthered by the de-contextualization of those who interact. In the context of this basic distinction, different types of silence can be identified.

What an act of silence actually means or is supposed to mean always has to be worked out between the communication partners and becomes obvious not least in the various intervention strategies that can be found in keyboard-to-screen communication, showing parallels to the strategies in face-to-face conversation.

 
 

1 Einleitung

Obwohl Reden und Schweigen als „Komplementärkräfte im Kommunikationsgeschehen“ (Mayer, 2007, 686) zu verstehen sein sollten, wird Schweigen gemeinhin ex negativo als das Fehlen von Rede definiert – es „entsteht dort, wo Reden aufhört. Und es endet dort, wo Reden wieder einsetzt. Schweigen wird also durch Reden begrenzt“ (Bergmann, 1982, 147) und oszilliert als „sprachliche Extremform (das Andere der Sprache und zugleich deren Teil)“ (Schmitz, 1990, 32) im Spannungsfeld Sprache – Nicht-Sprache. Die Tatsache, dass Schweigen als „lack of speech“ (Jaworski, 1993, 46) konzipiert wird und ein materielles Nichts darstellt, bedeutet dabei aber weder, dass es keine kommunikative Funktion hat, noch, dass es als Gegensatz des Sprechens anderen Regeln unterworfen ist. Vielmehr zeigt Schweigen sehr prägnant,

„was überall in der Sprache gilt: Vieldeutigkeit, Kontextabhängigkeit, Bedeutungskonstruktion durch die Sprecher. Die – abstrakt betrachtet – Vieldeutigkeit der Zeichen wird in der Situation durch die Sprecher auf das je einzeln Gemeinte erst festgelegt.“ (Schmitz, 1990, 32)

Gerade die Digitalisierung und Mediatisierung haben dazu beigetragen, dass sich Kommunikationspraktiken und mit ihnen auch kommunikative Erwartungshaltungen ändern. Die damit zusammenhängenden Fragen, wie sie etwa im Zuge der 2020 stattgefundenen DGSS-Tagung „Mündlichkeit 4.0: Sprechen in einer digitalen Welt“ gestellt wurden, nämlich „wie sich die Form, miteinander zu sprechen, wie sich die Inhalte, die wir kommunizieren, durch die Einbindung des Digitalen verändern“ (DGSS, 2020) und welche Unterschiede sich zwischen dem Sprechen in der „digitalen Welt“ und dem in der „analogen Welt“ ergeben (ebd.), sind auch für Schweigen in sogenannter Keyboard-to-Screen-Kommunikation (KtS-Kommunikation) (Dürscheid & Frick, 2014), also in digitaler, schriftlich vermittelter Kommunikation virulent. Dies lässt sich nicht nur, aber auch an den massenhaft im Internet kursierenden Memes nachvollziehen, die die Bedeutsamkeit von Schweigen deutlich anzeigen:

Abb. 1 Metakommunikation über Schweigen (Quelle: Instagram 1+3 sacdasm_only , 2 classicalfuck

Während Meme 1 auf humorvolle Weise darauf anspielt, dass es weder schwer noch unmöglich ist, auf Whatsapp-Nachrichten zu antworten, zeigen die Memes 2 und 3, dass sich das Verhältnis von Schreiben – Nicht-Schreiben zu einem (Macht-)Spiel entwickelt hat. Dies impliziert, dass es nicht nur Spielregeln, sondern auch Sieger*innen und Verlierer*innen gibt, wobei offenbar gilt: Wer länger schweigt, gewinnt. Da aber kein Kontaktabbruch angestrebt wird, scheint es eine der Spielregeln zu sein, das Verhältnis zwischen Zuwendung und Ignorieren, also Schreiben und Schweigen, auszubalancieren.

Die sich hier abzeichnende Relevanz von Schweigen lässt sich auch in authentischer, privat geführter Messenger-Kommunikation 1 nachvollziehen und bildet die Grundlage dieses Beitrages. In der Analyse des dort aufkommenden Schweigens, genauer: der Analyse der Metakommunikation über dieses Schweigen, zeigen sich viele Parallelen zu den die Schweigephasen beendenden Interventionsstrategien, die Bergmann (1982) in Face-to-Face-Gesprächen feststellt, aber es offenbart sich auch ein Spezifikum der KtS-Kommunikation: das (längerfristige) Zurück-Schweigen. Bevor in Abschnitt 4 auf diese Strategien genauer eingegangen wird, sei im Zusammenhang mit Schweigen zunächst auf die Mediatisierung und die Entgrenzung der Medien eingegangen, um im Zuge dessen einige ausgewählte Charakteristika der Messenger-Kommunikation am Beispiel von Whatsapp darzulegen. Im darauffolgenden Abschnitt wird der grundlegende und analyserelevante Unterschied zwischen Schweigen und Still-Sein erörtert und neben den verschiedenen Schweigearten auf graduelles Schweigen eingegangen.

2 Mediatisierung, Entgrenzung, Whatsapp und soziale Kontrollmechanismen

Mit Mediatisierung ist nach Krotz (2001) das Wechselverhältnis von medienvermittelter Kommunikation und gesellschaftlicher Praxis gemeint. Menschen entwickeln nicht nur Technik und somit Medien, sondern sie eignen sie sich auch sozial an – und wegen dieser Aneignung ändern sich die Alltagspraktiken, an die die Medien wiederum angepasst werden (Krotz, 2001: 31). Das hat letztlich zu einer Entgrenzung von Medien geführt (Krotz, 2001, 19 ff.): Waren sie früher an bestimmte Zeiten und Orte gebunden – Beispiele sind das Festnetztelefon oder der heimische Fernseher, auf dem samstagabends um 20:15 Uhr eine Unterhaltungsshow oder ein Spielfilm geschaut wurde –, sind sie dies heute nicht mehr. Besonders durch das Smartphone als täglicher Begleiter ist nicht nur das Streamen von Filmen und Serien überall und zu jeder Zeit bequem möglich geworden, sondern auch die zwischenmenschliche Kommunikation, sei es per Whatsapp-Chat, FaceTime, Instagram (Direct Message), Facebook (Messenger), Snapchat oder klassischen Anruf. Diese nun zumindest theoretisch mögliche Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit hat wiederum Auswirkungen auf das Kommunikationsverhalten und die Erwartungen, die daran geknüpft sind. Denn offenbar wird im Zuge der Mediatisierung die Möglichkeit der Nicht-Erreichbarkeit ausgeklammert oder zumindest stark vernachlässigt (Lautenschläger, 2021), was sich an Beispiel 4 und besonders an Beispiel 5 nachvollziehen lässt.

Abb. 2 Kommunikative Erwartungshaltung (eigenes Korpus)

Durch die Äußerungen „Danke für die Antwort“ und „Okay dann halt nicht!!“ wird nicht nur erkennbar, dass es einen (zumindest einseitig vorausgesetzten) normativen zeitlichen Rahmen gibt, innerhalb dessen eine Reaktion erfolgen muss, sondern auch, dass er überschritten wurde, weshalb Interventionen (s. Abschnitt 4) stattgefunden haben 2. In beiden Fällen wird diese Redezugvakanz (Bergmann, 1982; s. auch Abschnitt 3.1) durch Unerreichbarkeit („Hatte mein Handy nicht am Schreibtisch“; „Hab mein Handy nicht immer in der Hand!“) entschuldigt bzw. begründet, was in Beispiel 5 durch die Re-Reaktion („Ja ist klar“) als unglaubwürdige Ausrede bezeichnet wird. Dies wiederum verweist auf die Annahme, dass das Gegenüber das Smartphone (fast) immer mit sich führt und eine Nicht-Reaktion durch Nicht-Erreichbarkeit (= Still-Sein, s. u.) daher tendenziell ausgeschlossen ist, weshalb von einer intendierten kommunikativen Handlung (= Schweigen, s. u.) ausgegangen wird.

Messenger wie Whatsapp 3 gelten als primär schriftbasierte Kommunikationsplattformen (Dürscheid & Frick, 2016, 60), die aber neben der Standardmodalität der Schrift auch weitere semiotische Ressourcen anbieten wie Emojis, Sticker, GIFs, Videos oder Audio-Formate (Sprachnachrichten). Relevant sind hier die schriftbasierten Textnachrichten, also die Kommunikationsform Chat 4, bei der zentral ist, dass die Interagierenden in der Regel sowohl räumlich als auch zeitlich getrennt, also entkontextualisiert sind (Höflich, 2016, 45); die Kommunikation erfolgt daher quasi-synchron oder asynchron, aber niemals simultan bzw. synchron 5.

KtS-Kommunikation, also Kommunikation, die über eine Tastatur getippt und auf den Bildschirm der Empfänger*innen übermittelt wird (Dürscheid & Frick 2014), ist nicht nur entgrenzt, sondern auch entkontextualisiert: Da die sprachliche Interaktion von überall aus möglich ist, wissen die Schreibenden voneinander nicht ganz genau, in welchen konkreten Kontexten sich das Gegenüber gerade befindet. Damit ist auch nicht einschätzbar, ob der schriftliche Austausch das dominante Engagement oder lediglich als Zeitvertreib das untergeordnete Engagement darstellt. Mit untergeordnetem Engagement meint Goffman (2009, S. 60), dass

„der Einzelne es nur in dem Maße und so lange pflegen darf, wie seine volle Aufmerksamkeit nicht vom dominanten Engagement gefordert ist. Untergeordnete Engagements gehen gedämpft, abgestimmt und diskontinuierlich vonstatten“.

Fahre ich also gerade in der Straßenbahn und schreibe meinem Gegenüber, unterbreche ich den Chat, sobald ich aussteigen muss – die Fortbewegung ist das dominante, die Kommunikation das untergeordnete Engagement. Teile ich dabei meinem Gegenüber nicht mit, wo bzw. in welcher Situation ich mich gerade befinde, dann kann das abrupte Enden meines Engagements Irritationen auslösen und zu Interventionsstrategien führen, die das Schweigen bzw. Still-Sein (s. Abschnitt 3) beenden sollen.

Insbesondere Whatsapp bietet zudem eine Vielzahl an awareness cues, d. h. Informationen auf der Benutzeroberfläche (Mai & Wilhelm, 2015, S. 14) mit sozialer Kontrollfunktion, die Auswirkungen auf die Interaktion haben und sich auf die Interpretation von Schweigen auswirken, was Beispiel 6 gut demonstriert.

Neben der Möglichkeit, den Online-Status zu aktivieren und dadurch erkennen zu können, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit das Gegenüber die App das letzte Mal geöffnet hat 6, kann die Lesebestätigung aktiviert werden. Diese zeigt durch das Blaufärben der Haken an, ob eine Nachricht gelesen wurde bzw. ob der Chat geöffnet wurde, nachdem die Nachricht dort versendet wurde. Und genau diese Nachprüfbarkeit hat nun interaktive Konsequenzen:

Abb. 3 Lesebestätigung und ihre interaktive Wirkung (eigenes Korpus)

Sobald eine Nachricht als gelesen bzw. abgespielt markiert wurde 7, können Unsicherheiten darüber entstehen, warum das Gegenüber noch nicht geantwortet hat, wenn es doch die Nachricht abgehört bzw. gelesen oder zumindest wahrgenommen haben muss. Kurzum: Nur weil auf der Äußerungsebene nichts passiert, gilt dies nicht analog auch für die Interaktionsebene.

Wie Abb. 3 zeigt, findet im Zeitraum von 09:43 Uhr bis 10:11 Uhr nichts statt, es werden keine Nachrichten ausgetauscht; trotzdem stellt Person B 8 nach 28 Minuten die Frage „Bist du jetzt sauer?“ – und diese Frage zeigt, dass zumindest in der Wahrnehmung von B nicht nichts, sondern etwas Negatives geschehen ist und sich durch Schweigen manifestiert. Durch die Nachprüfbarkeit des Abhörzeitpunktes – A hat die Nachricht nicht nur sofort gesehen, sondern auch abgehört – geht B offenbar davon aus, dass A kommunikativ verfügbar ist, weshalb dessen Redezugvakanz (s. u.) als markiertes, d. h. kommunikativ bedeutsames Schweigen interpretiert und als Reaktion auf den Inhalt der Sprachnachricht gedeutet wird. Mit der Nachfrage „Bist du jetzt sauer?“ soll nach 28-minütiger Vakanz nicht nur das Schweigen gebrochen, sondern auch überprüft werden, ob es sich wirklich um Schweigen handelt, und wenn ja, mit welcher Bedeutung es (nicht) zu verstehen ist. Bevor detaillierter auf solche und ähnliche Interventionsstrategien eingegangen wird, soll zunächst die Vielfältigkeit von Schweigen skizziert werden.

3 (Graduelles) Schweigen, Still-Sein und Schweigearten

Schweigen ist nicht gleich Schweigen, denn zu differenzieren sind nicht nur verschiedene Arten des Schweigens, also etwa Still-Sein, verschiedene Arten der Pause (Bergmann, 1982; Meise, 1996; Schwitalla, 2012) oder konventionelles und markiertes Schweigen, sondern innerhalb dieses kommunikativen Schweigens ist noch zwischen verschiedenen Intensitätsgraden zu unterscheiden (s. Abb. 6), die auch von der jeweiligen Kommunikationsform abhängen. Zunächst soll aber Abb. 4 einen übergeordneten, von Kommunikationsformen abstrahierenden Überblick gewährleisten.

Abb. 4 Schweigearten (Lautenschläger i. V.)

Da linguistische Auseinandersetzungen mit Schweigen bisher primär anhand mündlich geführter Face-to-Face-Gespräche innerhalb der Gesprächslinguistik stattgefunden haben, überrascht es wenig, dass hier mit deren Termini und Kategorien operiert wird. Da aber evident ist, dass es Unterschiede zwischen medial mündlichem und medial schriftlichem Schweigen gibt, müssen einige Schweigephänomene im Zusammenhang mit schriftlicher Interaktion verworfen oder kommunikationsformadäquat modifiziert werden 9, was im Rahmen dieses Beitrages allerdings nicht geleistet werden kann.

Im Hinblick auf die hier relevante KtS-Kommunikation interessieren daher nur die durch Umrandung hervorgehobenen Phänomene (besonders das markierte Schweigen bzw. die Redezugvakanz), die Parallelen zwischen mündlich und schriftlich realisierter Kommunikation aufweisen (s. Abschnitt 4), aber eben nicht identisch sind (s. Abschnitt 3.2). Um sie adäquat analysieren zu können, ist es zuvor aber notwendig, ein Schweigen von einem Still-Sein (Stille) abzugrenzen.

Um beide Phänomene unterscheiden zu können, muss die (Zuschreibung von) Intentionalität 10 herangezogen werden, auch wenn gerade dieses Kriterium in KtS-Kommunikation wegen der Entgrenzung und Entkontextualisierung nicht bzw. kaum prüfbar ist. Denn Schweigen ist analog zum Sprechakt als Schweigakt zu verstehen, bei dem eine finale kommunikative Handlungsintention vorliegt; es wird also kommunikativ-intendiert eingesetzt. Abzugrenzen davon ist Still-Sein als kommunikativ bedeutungsloser und unmarkierter Zustand des Sich-nicht-Äußerns (Meise, 1996, S. 16). Bei dieser Unterscheidung kann es in der kommunikativen Praxis – und das indizieren die Pfeile in der Grafik – durchaus zu Verwechslungen kommen. Dadurch, dass Schweigen und Still-Sein beide materiell nichts sind und sich als Fehlen von etwas manifestieren, sind der Kontext – und dazu zählt ganz maßgeblich sowohl das Wissen darüber, in welcher Situation sich das Gegenüber gerade befindet, als auch generelles Wissen über dessen typisches Kommunikationsverhalten – und mit ihm auch besagte awareness cues (zunächst) die einzige Möglichkeit der Bedeutungsentschlüsselung.

In einer Face-to-Face-Situation hingegen ist die Frage, ob es sich um eine Handlung (Schweigen) oder einen Zustand (Stille) handelt, einfacher zu beantworten: Teilt man sich beispielsweise ein Büro und arbeiten beide Personen konzentriert an ihren PCs, dann ist das Nicht-Sprechen der beiden Parteien nicht als Schweigen, sondern als Still-Sein zu verstehen. Wenn mein Gegenüber mich dann in dieser Situation anspricht, ich aber nicht antworte, weil ich so vertieft in meine Arbeit bin, kann es meine Nicht-Reaktion durch einen kurzen Blick überprüfen und feststellen, dass es sich dabei weniger um ein Schweigen handelt als um ein auf konzentriertes Arbeiten zurückzuführendes Still-Sein. Diese Art der Rückversicherung ist bei Whatsapp-Kommunikation nicht gegeben. Will man dort auf dieser grundlegenden Ebene Missverständnisse verhindern, empfiehlt es sich, kommunikative Vorkehrungen zu treffen, wie sie in Abb. 5 zu sehen sind:

Abb. 5 Kommunikative Vorkehrung (eigenes Korpus)

Durch den Hinweis darauf, dass man noch einkauft, wird dem Gegenüber verdeutlicht, dass man, wie die Lesebestätigung erkennen lässt, die Nachricht zwar bereits gelesen hat, aber nicht (angemessen) darauf reagieren kann, weil das dominante Engagement gerade beim Einkaufen liegt und man somit nicht kommunikativ bedeutsam schweigt, sondern lediglich still ist.

Für kommunikatives und insbesondere markiertes Schweigen lässt sich abschließend Folgendes festhalten (vgl. Lautenschläger i. V.): Es ist …

1. … zwar das Fehlen von Rede, aber nicht von Kommunikation;

2. … materiell und syntaktisch nichts, aber semantisch alles;

3. … multifunktional und ambig;

4. … äußerst stark kontextabhängig und somit auch

5. … rezipientenabhängig: Es existiert nur dann, wenn das angeschwiegene Gegenüber es als solches (an)erkennt.

Schweigen mag zwar materiell ein Nichts sein – es offenbart sich als ein Fehlen von etwas, das erwartet wurde –, aber gerade durch den Bruch mit Interaktionserwartungen wird es hochgradig bedeutsam (Schmitz, 1990, S. 31): Es ist das Fehlen von Rede, nicht aber das Fehlen von Kommunikation (Jaworski, 1993, S. 46). Schweigen kann ähnliche Funktionen und Bedeutungen haben wie Sprechen; es ist daher ebenso wie Sprechen multifunktional und ambig, wobei die Ambiguität etwas stärker ausgeprägt ist als beim Sprechen. Denn während die Bedeutung von Verbalisiertem durch die konkrete Wortwahl und den Kontext eingegrenzt wird, kann die Bedeutung eines Schweigens ausschließlich über den Kontext konstruiert werden. Mit dieser enormen Kontextabhängigkeit geht auch die Rezipientenabhängigkeit einher: Ob ein Schweigen überhaupt als bedeutsames Schweigen anerkannt wird oder ob man davon ausgeht, dass das Gegenüber lediglich still ist, hängt immer davon ab, welche Interpretation die angeschwiegene Person vornimmt. Neben dem konkreten Kontext, in dem ein Schweigen platziert wird, ist also auch die Beziehungskomponente der Interagierenden und ihr jeweiliges Wissen voneinander enorm bedeutsam. Wenn A von B weiß, dass B immer um 19 Uhr Feierabend macht und sich in der Regel immer erst nach 19 Uhr meldet, auch wenn er oder sie die Nachrichten bereits vorher liest, dann kann A eine Nicht-Reaktion von B also erst nach 19 Uhr als ein bedeutsames Schweigen interpretieren, auch wenn B vielleicht schon seit 15 Uhr beredt schweigt. Hieran wird deutlich, dass – mit sprechakttheoretischen Termini ausgedrückt – nicht die Illokution, d. h. die ‚eigentlich‘ vollzogene Handlung im Fokus steht, sondern die Wirkung, die Perlokution, die ein Schweigen aufseiten der angeschwiegenen Person hat und sich interaktional manifestiert. Sobald A also merkt, dass B schweigt, setzen in der Regel Interventionsstrategien ein (s. Abschnitt 4), wie sie bereits in Abb. 3 erkennbar wurden.

Letztlich gilt: Kommunikatives Schweigen stellt keinen Gegensatz oder Widerspruch zum Sprechen dar, sondern beides sind Kommunikationsmodalitäten mit je eigenen Stärken und Schwächen, wobei allerdings beim Schweigen das „‚Weniger an Schall‘ [bzw. das Weniger an Schrift, SL] […] durch ein ‚Mehr an Wirkung‘ ausgeglichen [wird].“ (Wenderoth, 1998, S. 142)

3.1 Schweigearten

Wie Abb. 4 anzeigt, kann innerhalb des hier relevanten kommunikativen Schweigens generell zwischen konventionellem und markiertem Schweigen differenziert werden. Das konventionelle Schweigen ist in bestimmten Situationen qua Konvention angemessen oder zumindest erwartbar. Ein Beispiel dafür ist das Schweigen aus Höflichkeit, das Jaworski (1993, S. 59) auch als formulaic silence bezeichnet: „Formulaic silence is understood here to be a customary act of saying nothing in reaction to specific stimuli. It occurs when saying something, formulaic or not, would pose a greater threat to another person’s face than remaining silent.“ Markiertem Schweigen hingegen fehlt diese Konventionalität, es wird als Bruch mit der Erwartungshaltung, als (negativ) „markierte[s] Fehlen eines vom Partner erwarteten (Sprachhandlungs-)Tuns“ (Heinemann, 1999, S. 307) aufgefasst.

Die sogenannte Redezugvakanz (Bergmann, 1982) kann dabei, muss aber nicht, mit diesem markierten Schweigen übereinstimmen. Mit Redezugvakanz gemeint ist jener „Typus einer Schweigephase, der dadurch entsteht, daß ein Redezug, zu dessen Übernahme einer der angesprochenen Rezipienten verpflichtet wurde, (zunächst einmal) vakant bleibt.“ (Bergmann, 1982, S. 154) Besonders salient werden Redezugvakanzen bei Paarsequenzen, die der konditionellen Relevanz stark unterworfen sind (Kallmeyer, 1979, S. 70). Konkret heißt dies, dass das Auftreten von Sequenz 1 – z. B. ein Gruß oder eine Frage – das Auftreten von Sequenz 2 – einen Gegengruß oder eine Antwort – konventionell hochgradig erwartbar macht. Bleibt Sequenz 2 aber aus, ist dies dispräferiert (s. u.) und markiert, wobei es dann die Aufgabe der sequenzinitiierenden Person ist, das Schweigen des Gegenübers zu interpretieren, denn

[d]ieses ‚Nichts‘ […] offenbart ja als solches nicht, was es bedeutet oder worin es seinen Grund hat. Das Ausbleiben einer konditionell relevanten Folgeäußerung zwingt daher den Sequenzinitiator dazu, sich auf die Suche nach dem Grund oder der Bedeutung dieses ‚Nichts‘ zu machen. (Bergmann, 1982, S. 156)

Diese Suche mündet in verschiedenen Interventionsstrategien, von denen Bergmann in Face-to-Face-Gesprächen vier identifiziert hat, die aber im Hinblick auf KtS-Kommunikation noch um eine fünfte ergänzt werden müssen (s. Abschnitt 4).

3.2 Graduelles Schweigen

Ganz gleich, ob es sich nun um konventionelles oder markiertes Schweigen handelt, lassen sich verschiedene Grade des Schweigens unterscheiden, die wiederum von Kommunikationsform und -modus abhängig sind. Daher werden bei den folgenden Überlegungen die Unterschiede von KtS- und Face-to-Face-Kommunikation explizit hervorgehoben.

Mit absolutem Schweigen ist gemeint, dass wortwörtlich nichts übermittelt wird: kein Laut, keine Gestik, keine Mimik. Es kann daher nur in KtS-Kommunikation auftreten, nicht aber in zwangsläufig multimodal ablaufender Face-to-Face-Interaktion, da hier zwar nonvokal interagiert werden kann, aber unvermeidlich im gemeinsam erlebten Wahrnehmungsraum nonverbale Informationen übertragen würden 11 und somit nicht nichts vermittelt wird. Absolutes Schweigen ist demnach nonvokal und zudem averbal in dem Sinne, dass weder eine sprachliche Äußerung getätigt wird noch körpersprachliche (proxemische, mimische, gestische) Elemente vorliegen. Das Maximum an Informationsübermittlung stellt die Lesebestätigung dar, anhand derer überprüft werden kann, ob die Nachricht gelesen bzw. der Chat geöffnet wurde (vgl. Beispiel 6 aus Abb. 3).

Das andere Ende der Skala bildet das verbale Schweigen, das „Schweigen im Reden, das Schweigen mit dem Wort“ (von Sass, 2016, S. 15, Herv. i. O.), das auch als Thematisierungsverzicht oder als Um-den-heißen-Brei-Herumreden bezeichnet werden kann.

Abb. 6 Graduelles Schweigen (Lautenschläger i. V.)

Zwischen diesen zwei Extremen finden sich das explizite und das implizite Schweigen (Bilmes, 1994). Ersteres bezieht sich darauf, dass keine Laute oder Schriftzeichen produziert werden, aber durch nonverbale Körpersprache etwas zum Ausdruck kommt. Hier wird erkennbar, dass explizites Schweigen nicht in KtS-Kommunikation auftreten kann, sondern lediglich in Face-to-Face-Interaktionen. Das implizite Schweigen bezieht sich auf Minimalreaktionen wie Emojis oder knappe Äußerungen 12 und lässt sich sowohl bei Face-to-Face-Gesprächen als auch bei Whatsapp-Chats erkennen.

Abb. 7 Implizites Schweigen (Quellen: 8: https://ask.fm/SchoenePictures/answers/112671734035; 9: eigenes Korpus)

Emojis sind als digitales Äquivalent zu Gestik und Mimik zu verstehen: Als ikonifiziert-indexikalische Zeichen imitieren und simulieren sie z. B. Gesichtsausdrücke und üben dadurch u. a. kontextualisierende Funktionen aus, zeigen also etwa an, dass eine sprachliche Äußerung spaßig gemeint ist (Beißwenger & Pappert, 2019). Da die Emojis aber bewusst und willentlich ausgewählt werden müssen und nicht wie reguläre Körpersprache zum Teil unbewusst ausgedrückt werden, sind sie in der Skala beim impliziten Schweigen angesiedelt. Auch kurze verbale Äußerungen, die entweder als (konventionell) angemessen oder (markiert) unangemessen interpretiert werden können, sind als (mögliches) implizites Schweigen zu kategorisieren. In Abb. 7 fällt bei beiden Beispielen durch die jeweilige Reaktion auf, dass sie als Problemindikatoren fungieren: In Beispiel 8 kann die (offenbar polysem gewordene) Partikel okay nicht gedeutet werden, weshalb eine Vielzahl möglicher Lesarten aufgezeigt wird, während in Beispiel 9 die Partikel aha in Kombination mit dem nüchtern wirkenden Schlusspunkt 13 (Dürscheid & Frick, 2016, S. 93) als Ausdruck von Kränkung bzw. Schmollen (Wenderoth, 1998) interpretiert wird, weshalb eine Rechtfertigung erfolgt, die mit einer Entschuldigung eingeleitet wird.

An Beispiel 9 ist außerdem erkennbar, dass bei sprachlichen Interaktionen zusätzlich zur konditionellen Relevanz eine Präferenzorganisation vorliegt (vgl. Levinson, 1990/1983). Das bedeutet, dass es bestimmte, unmarkierte Reaktionen auf eine Aktion gibt, die man als first priority response (Bilmes, 1994) bezeichnet. Frage ich mein Gegenüber „Willst du morgen mit mir einen Kaffee trinken?“, dann hoffe ich, dass die Antwort „Ja“ lautet; eine dispräferierte Reaktion ist ein Nein und eine noch stärker dispräferierte Reaktion ist ein markiertes Schweigen, das ebenfalls mit einem Nein gleichgesetzt würde (Meise, 1996, S. 64), aber zusätzlich noch mit der Erwartungshaltung bräche, überhaupt eine verbale Reaktion zu erhalten. Bleibt die präferierte Variante aus und wird durch Schweigen oder knappe Äußerungen wie „Aha.“ ersetzt, handelt es sich um markierte, nicht-bevorzugte zweite Teile, die je nach kommunikativem Kontext Interventionsstrategien oder andere interaktive Bearbeitungsschritte (wie die Rechtfertigung) auslösen können.

Abb. 8 Konditionelle Relevanz ohne Paarsequenz (eigenes Korpus)

Zudem zeigt sich an Beispiel 9, noch deutlicher aber an Beispiel 10, dass präferierte Reaktionen nicht nur an konventionalisierte Paarsequenzen gebunden sind, sondern generell an Erwartungshaltungen, die sich auch aus der Beziehung der Interagierenden ergeben.

Auf diesen assertiven Sprechakt, der eine Folgeäußerung nicht zwingend erwartbar macht, erfolgt nach ca. 8 Stunden verstrichener Zeit ein direktiver Sprechakt, der als erster Teil einer Paarsequenz fungiert und somit einen zweiten Teil verlangt, der dann mit einer Erklärung, warum die präferierte Reaktion ausgeblieben ist, letztlich erbracht wird.

Da, wie erwähnt, nicht zweifelsfrei erschlossen werden kann, ob es sich um Schweigen oder Still-Sein handelt und welche Bedeutung das (vermeintliche) Schweigen haben könnte, geht Person A hier mit der Frage „Antwortest du nicht mehr?“ inklusive des Erstaunen ausdrückenden Emoticon „:o“ auf die bereits thematisierte Suche nach dem Grund für die fehlende Reaktion, sprich: Sie wendet eine Interventionsstrategie an. Dabei ist die Basis der Interventionen stets, dass die Zeitspanne überschritten wurde, in der die „normative Erwartung, daß der Gesprächsteilnehmer, der am Zug ist, seiner Redepflicht schon noch nachkommen wird“ (Bergmann, 1982, S. 158), hätte aufrechterhalten werden können. Wie viel Zeit dem Gegenüber dabei eingeräumt wird, hängt wiederum von der Beziehung der Interagierenden und deren Wissen voneinander ab.

4 Interventionsstrategien

Bezogen auf aufgezeichnete und transkribierte Face-to-Face-Kommunikation stellt Bergmann (1982, S. 167 ff.) für Schweigephasen im Gespräch insgesamt vier Interventionsstrategien fest, die das Schweigen des Gegenübers beenden sollen:

  1. Wiederholung

  2. Selbstkorrigierende Intervention (Reformulierung)

  3. Korrekturinitiierende Intervention (Fokussierungsaufforderung)

  4. Explizite Formulierung der Interpretation

    Obwohl diese kommunikativen Phänomene in einer anderen Kommunikationsform erhoben wurden, lassen sich diese Strategien, z. T. etwas modifiziert, auch auf die hier relevante KtS-Kommunikation übertragen und sollen von mir um einen fünften Punkt ergänzt werden:

  5. Zurück-Schweigen

Abb. 9 Wiederholung, Reformulierung und Re-Thematisierung (eigenes Korpus)

Die Strategien 1 und 2 überschneiden sich im vorliegenden Datenmaterial und können am treffendsten als Verdacht des Überlesens beschrieben werden.

Für Face-to-Face-Gespräche konstatiert Bergmann, dass Wiederholungen zwei Grundbedingungen haben:

Zum einen gründet sich die Wiederholung einer sequenzinitiierenden Äußerung auf die Möglichkeit, daß diese Äußerung gar nicht beim Rezipienten ‚angekommen‘ ist und eben deshalb der nochmaligen Formulierung bedarf. […] Zum anderen aber kommt in der unveränderten Wiederholung einer sequenzinitiierenden Äußerung zum Ausdruck, daß für den Sprecher diese Äußerung selbst nicht korrekturbedürftig ist, sie vielmehr so, wie sie formuliert wurde, in Ordnung und verstehbar war. (Bergmann, 1982, S. 167)

Für selbstkorrigierende Interventionen stellt er fest, dass „ein Sprecher zu verstehen gibt, daß er in seiner eigenen ersten Äußerung die Störungsquelle sieht, auf die die Schweigereaktion des Rezipienten sich zurückführen läßt“ (Bergmann, 1982, S. 168), sodass die Äußerung reformuliert wird, um die Störung zu beseitigen.

Bei Whatsapp-Chats hingegen zeigt sich im Korpus, dass 1:1-Wiederholungen trotz Copy-and-Paste-Möglichkeit nur dann vorkommen, wenn sie mit der Antwortfunktion einhergehen, dabei aber häufig von einem reformulierten Text begleitet werden, der eine Re-Thematisierung bezweckt, wie sie sich in Beispiel 11 ganz rechts finden lässt.

Abb. 11 Explizites Formulieren der Interpretation (eigenes Korpus)

Der Unterschied, der sich zu Bergmanns Feststellungen ergibt, ist der, dass hier zum einen ein verbales Schweigen vorliegt: Die Interagierenden schreiben einander, ohne das Thema – hier: die Schönheit des Autos – aufzugreifen, was sich in Einklang bringen lässt mit der Annahme, dass die „Äußerung gar nicht beim Rezipienten ‚angekommen‘ ist“ (Bergmann, 1982, S. 167). Sie wurde also ggf. flüchtig wahrgenommen, aber nicht registriert und beantwortet. Bei der Re-Thematisierung einen Tag später 14 im Ausschnitt rechts zeigt sich dann die Überschneidung von der Reformulierung („Wie findest du ihn denn eigentlich?“) mit der auf die Antwortfunktion mit zitiertem Text zurückgehenden Wiederholung („Schatz, schau doch wie stilvoll er von innen ist“). Die Reformulierung findet hier aber offenbar nicht unter der Annahme statt, dass die ursprüngliche Formulierung undeutlich gewesen wäre, sondern unter dem besagten Verdacht des Überlesens.

Korrekturinitiierende Interventionen, die sich als Fokussierungsaufforderung manifestieren, lassen sich analog zu Bergmanns Beispielen sehr häufig finden. Dabei

gibt der Sequenzinitiator durch eine solche Intervention auch zu verstehen, daß nach seiner Ansicht die nicht auf ihn fokussierte Aufmerksamkeit des Rezipienten der Grund für das entstandene Schweigen ist. Die Fokussierungsaufforderung dient also dazu, eine Korrektur des Orientierungszustandes des Rezipienten zu initiieren […]. (Bergmann, 1982, S. 177)

Der einzige Unterschied zwischen Face-to-Face- und KtS-Kommunikation besteht darin, dass sich bei Ersterer leichter feststellen lässt, ob das geführte Gespräch das dominante oder untergeordnete Engagement darstellt, was bei der entkontextualisierten KtS-Kommunikation nicht zweifelsfrei gelingt. Als häufiger Aufmerksamkeitserreger gilt Hallo? oder aber auch das (iterierte) ?.

Wie vor allem Beispiel 12 zeigt, kann die Fokussierungsaufforderung auch mit Strategie 4, der expliziten Formulierung der Interpretation einhergehen, die bereits in Beispiel 6 („Bist du jetzt sauer?“) begegnete. Während bei den anderen drei Strategien die Interpretation des Schweigens lediglich implizit bleibt, wird sie hier verbalisiert und lässt Rückschlüsse darüber zu, wie die angeschwiegene Person das Schweigen einschätzt. Während bei Beispiel 6 von einer wie auch immer gearteten Verfehlung ausgegangen wird, die das Gegenüber verärgert haben könnte 15, geht A in Beispiel 12 zunächst davon aus, dass bei B ‚irgendetwas nicht gut‘ sein könnte, weshalb die Frage „Alles gut?“, gefolgt von der Fokussierungsaufforderung „??“ formuliert wird. Nach ca. 2,5 Stunden Wartezeit findet sich ein erneutes Explizieren der Interpretation des Schweigens, bei der von absichtlicher Ignoranz ausgegangen wird.

Abb. 11 Explizites Formulieren der Interpretation (eigenes Korpus)

Dass Schweigen eine dispräferierte Reaktion darstellt und überhaupt als Reaktion wahrgenommen wird – man beachte die Lesebestätigung und die Äußerung „Ich sehe dass du es gelesen hast …“ in Beispiel 17 16 –, zeigt sich jeweils in den Ausformulierungen, die die Bedeutung des Schweigens als auf Unlust bzw. Desinteresse beruhende Absage erkennen lässt.

All diese Strategien werden genutzt, um die Redezugvakanz – und damit ist sowohl das markierte Schweigen als auch das Übergehen bestimmter Themen, also das verbale Schweigen, gemeint – zu beenden und das Gegenüber dazu zu bewegen, seinen Redezug zu übernehmen.

Darüber hinaus lässt sich eine fünfte Strategie, das Zurück-Schweigen, beobachten. Die Besonderheit in der Erforschung des Zurück-Schweigens liegt darin, dass sie ausschließlich in der Metakommunikation mit am eigentlichen Chat Unbeteiligten erhoben werden kann.

Anstatt die zuerst schweigende Person also (konfrontativ) auf ihr Schweigen anzusprechen bzw. eine der anderen Interventionsstrategien anzuwenden, wird ein Zurück-Schweigen geplant, das offenbar dazu dient, Desinteresse zu simulieren und dem Gegenüber anzuzeigen, dass man ihm keine hohe Priorität im eigenen Leben einräumt (Lautenschläger, 2021). Ziel ist es – hier sei an Beispiel 3 in Abb. 1 erinnert –, länger zu schweigen und dadurch ‚zu gewinnen‘, sprich: das Gegenüber zu einer verbalen (Re-)Aktion zu bewegen.

Abb. 12 Metakommunikation über strategisches Zurück-Schweigen (eigenes Korpus)

Die Beispiele 18 und 20 verweisen darauf, dass sich das strategische und geplante Schweigen als ein psychischer Kraftakt erweist („Ich muss mich schon wieder total zusammen reißen […]“; „Wird gar nicht so einfach“), den zu vollbringen sich aber letztlich lohnt. Dabei ist es wichtig, das kommunikative Schweigen als Still-Sein auszugeben, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. So merkt die Studentin, die Beispiel 20 zum Korpus beigesteuert hat, an: „Zumindest hat das anschweigen [sic!] geholfen, da dann wieder von ihm zumindest ein ‚Na du‘ kam und eine Konversation eingeleitet wurde :-)“.

Es stellt allerdings eine Schwierigkeit dar, den Nachweis zu erbringen, dass ein Schweigen im entsprechenden Chat tatsächlich als Still-Sein ausgegeben wird. Prinzipiell gelingt dies nur, wenn die Metakommunikation über das geplante Schweigen und der tatsächlich betroffene Chat vorliegen, was in Beispiel 21 der Fall ist. In diesem speziellen Kontext handelt es sich aber nicht um den Versuch, die Redezugvakanz des Gegenübers zu beenden, sondern – und das lässt sich aus dem Begleittext erschließen, den die Studentin mit dem Screenshot eingereicht hat – um eine Höflichkeitshandlung:

Ich erzählte meiner besten Freundin erneuert [sic!] von dem Verhalten von X. und meinte, in der Sprachnachricht, dass ich X entweder meine Meinung sagen will oder einfach nicht darauf reagieren will. Darauf meinte meine beste Freundin, dass sie einfach nicht antworten würde, was ich dann auch nicht tat.

Statt also eine Imageverletzung zu begehen und X ‚die Meinung zu sagen‘, wird diese konfrontative Handlung ausgelassen und durch als Still-Sein getarntes Schweigen substituiert. Mit der entschuldigenden Behauptung, bereits geschlafen zu haben, wird zudem ein weiterer möglicher Konflikt vermieden, der aufkommen könnte, wenn das Schweigen offenkundig als markiertes Schweigen bzw. Schmollen ausgeübt würde, denn: „Schmollen weist die Verantwortung für das Vorgefallene dem oder den ‚Angeschmollten‘ zu“ (Wenderoth, 1998, S. 144) und kann entsprechend als Vorwurf gedeutet werden, der seinerseits wiederum zu Gegenvorwürfen führen kann (z. B. Hundsnurscher, 2001).

Abb. 13 Schweigen, das als Still-Sein getarnt wird (eigenes Korpus)

 

5 Fazit

Schweigen ist ein vielschichtiges interaktives Kommunikationsmittel, das zwar materiell nichts ist und als Fehlen von Rede konzipiert wird, aber gerade durch dieses markierte Fehlen seine Wirksamkeit entfaltet.

Schweigen existiert auch jenseits des Verbal-Prosodischen und nimmt, das konnten die Beispiele zeigen, in der KtS-Kommunikation einen hohen Stellenwert ein: Dadurch, dass wir durch das Smartphone theoretisch rund um die Uhr erreichbar sind und mehr Reden möglich wird, wird automatisch auch mehr Schweigen möglich. Während bei Face-to-Face-Kommunikation auf Grundlage des gemeinsamen Wahrnehmungsraumes mehr kontextuelle Möglichkeiten zur Verfügung stehen, ein Schweigen zu dechiffrieren und es von einem etwaigen Still-Sein zu unterscheiden, sind die Interagierenden in digitaler, schriftlich vermittelter Kommunikation entkontextualisiert und in hohem Maße auf ihr Wissen über das Gegenüber und dessen typische Kommunikationsroutinen angewiesen. Soziale Kontrollmechanismen wie der Online-Status oder die Lesebestätigung können dabei, wenn sie aktiviert sind, zusätzliche Orientierung bieten, aber auch zu Verunsicherungen führen und schon nach relativ kurzer Redezugvakanz zu Interventionsstrategien führen, wie sie in Abschnitt 4 diskutiert wurden. Dabei manifestiert sich im Hinblick auf KtS-Kommunikation eine Taktik, die von den aus Face-to-Face-Gesprächen abgeleiteten Interventionsmöglichkeiten abweicht: das Zurück-Schweigen. Letztlich zeigt sich besonders an dieser Strategie, wie sehr Schweigen mit Provokation und Prävention, aber auch mit Macht und Dominanz einhergeht: So soll es einerseits das zuerst schweigende Gegenüber zu einer (Re-)Aktion provozieren bzw. animieren und dabei den Eindruck von Abhängigkeit oder des Hinterherlaufens verhindern sowie eine eigene Stärkeposition markieren bzw. simulieren, andererseits kann Schweigen auch präventiv wirken und (möglicherweise) konfliktauslösende verbale Äußerungen substituieren.

Schweigen ist nicht Nichts. Auch wenn es nur eine Form hat – das merkliche Fehlen von Schall bzw. Schrift –, besitzt es doch verschiedene Funktionen, Bedeutungen und auch graduelle Abstufungen: Es bewegt sich zwischen den Extremen des absoluten und verbalen Schweigens und kann explizit oder implizit realisiert werden. Dabei kann es, stets abhängig vom jeweiligen Kontext, als konventionelles und somit erwartbares oder aber als unerwartet-markiertes Schweigen gemeint bzw. gedeutet werden.

Doch ganz gleich, in welcher Spielart es eingesetzt bzw. interpretiert wird: Schweigen ist innerhalb (und außerhalb) digitaler Kommunikation ein zentrales Mittel und hat eine große kommunikative Wirkmacht, der man (nicht nur) in linguistischen Betrachtungen gerecht werden sollte, will man die Kommunikation in einer digitalen Welt und auch jenseits davon umfänglich untersuchen.


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Abbildungsverzeichnis

Siehe PDF-Datei

 

Autorin

 

Sina Lautenschläger

Sina Lautenschläger promovierte 2016 zum Thema Geschlechtsspezifische Körper- und Rollenbilder. Eine korpuslinguistische Untersuchung an der Universität Kassel, an der sie bis Januar 2021 als Lehrkraft für besondere Aufgaben tätig war. Seit Februar 2021 arbeitet sie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Zwischen Elfenbeinturm und rauer See – zum prekären Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik und seiner Mediatisierung am Beispiel der „Corona-Krise“.

E-Mail: sina.lautenschlaeger@ovgu.de

 

Kontakt

„Sprechen & Kommunikation – Zeitschrift für Sprechwissenschaft“ wird herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung e. V.

www.dgss.de

Erschienen am: 23.09.2022

 
 
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